Fallstudie: Die rechte Hand eines jungen Unternehmers wechselt zur Konkurrenz - und stürzt ihren ehemaligen Arbeitgeber damit ins Chaos. Nach zwei Jahren klopft der Mitarbeiter wieder bei seinem alten Chef an. Soll dieser ihn zurückholen?
Von Jyotsna Bhatnagar und Nakul Gupta
Weiter zu Teil 2. "Das beste fürs Geschäft" http://www.harvardbusinessmanager.de/heft/artikel/a-1139044-2.html
Ram Kapur und sein Bruder Shayam waren von oben bis unten bunt bepudert: Sie kamen gerade von einer Holi-Feier, dem indischen Fest der Farben. Jetzt kehrten sie für ein traditionelles Familienessen zu ihren Eltern in Gurgaon zurück. Gerade als sie das Haus betreten wollten, klingelte Ram Kapurs Handy, und er zeigte seinem Bruder den Namen des Anrufers auf dem Display: Hari Shukla.
"Warum ruft er dich ausgerechnet am Holi-Fest an?", fragte Shayam erstaunt.
Ram Kapur war Gründer und CEO von Green Impact Consulting, einem Architekturbüro, das sich für Nachhaltigkeit engagierte, und Hari Shukla war einer der meistgeschätzten Mitarbeiter dieses neuen Unternehmens gewesen - bis vor zwei Jahren, als er zur Konkurrenz gewechselt war.
"Ich glaube, es geht um einen Job", erwiderte Ram Kapur, der immer noch auf das Display starrte. "Wir stehen wieder in Kontakt miteinander."
"Kommt überhaupt nicht infrage", protestierte sein Bruder. "Er hat dich im Stich gelassen! Du hast dir doch damals geschworen, nie wieder ein Wort mit ihm zu wechseln."
Das stimmte. Shukla war Ram Kapurs rechte Hand bei Green Impact gewesen. Er hatte die Ingenieure auf den Baustellen der verschiedenen Immobilienprojekte des Unternehmens beaufsichtigt, während Kapur die technischen Analysten- und Designteams im Büro geleitet hatte. Im ersten Jahr war es schwierig gewesen, die Bauunternehmer in der Region für nachhaltiges Bauen zu gewinnen. Doch im zweiten Jahr stieß Shukla mit seiner langjährigen Erfahrung zum Unternehmen - und der Laden lief.
Die beiden Männer waren nicht nur Kollegen, sondern auch Freunde - also ein perfektes Team. Kapur war sich sicher: Green Impact würde sich schon bald zu einem der drei erfolgreichsten nachhaltigen Bauunternehmen in Indien entwickeln. Doch dann hatte Shukla aus heiterem Himmel seine Kündigung eingereicht und erklärt, er verlasse das Unternehmen "aus persönlichen Gründen" - nur um kurze Zeit später bei einem großen Konkurrenten (der Sustainable Build Group) wieder aufzutauchen.
Natürlich wusste Ram Kapur, dass alle Jungunternehmer in Indien Gefahr liefen, wertvolle Mitarbeiter zu verlieren. Talente waren in diesem Land so rar, dass etablierte und erfolgreichere Unternehmen mit bekannteren Namen ihren kleineren Konkurrenten häufig die besten Mitarbeiter abspenstig machten. Trotzdem fühlte Kapur sich betrogen und war am Boden zerstört, als sein engster Kollege kündigte.
Es war ein schweres Jahr gewesen. Nach Shuklas unerwartetem Weggang musste Ram Kapur nicht mehr nur die Leitung der Mitarbeiter im Büro übernehmen, sondern sich zusätzlich um die Teams auf dem Bau kümmern. Damit war er derart ausgelastet, dass er die Wachstumspläne, von denen er geträumt hatte, vorläufig begraben musste. Er war vollauf damit beschäftigt, seinen bereits bestehenden Kundenstamm zu bedienen und seine Mitarbeiter im Unternehmen zu halten. Er erhöhte sogar sämtliche Gehälter, um sicherzugehen, dass andere wertvolle Arbeitskräfte ihn nicht ebenfalls verließen. Es blieb ihm beim besten Willen keine Zeit mehr für Marketingaktivitäten; er schaffte es nur mit knapper Not, sein Geschäft in Gang zu halten. Seinen Mitarbeitern, Kunden und Eltern gegenüber tat er so, als sei alles in bester Ordnung; nur sein Bruder wusste, wie hart er kämpfen musste und wie schwer Shuklas treuloses Verhalten ihn getroffen hatte.
"Ich verstehe nicht, warum du mit diesem Menschen überhaupt noch redest!" Ungläubig schüttelte Shayam Kapur den Kopf.
"Ich weiß, ich weiß", gab Ram Kapur zu. "Er hat mich - und mein Unternehmen - wirklich schnöde im Stich gelassen. Aber er war ein großartiger Mitarbeiter und ein guter Freund. Also muss ich zumindest darüber nachdenken, ob ich ihn nicht doch wieder einstellen sollte."
"Er ist dir in den Rücken gefallen", schimpfte Shayam Kapur weiter, "und hat dich verlassen, weil er woanders mehr Geld verdienen konnte, ohne an eure Freundschaft und an die Mission von Green Impact zu denken. Diesem Mann kann man nicht über den Weg trauen. Außerdem ist dein Unternehmen doch jetzt auch ohne ihn erfolgreich. Du brauchst ihn also gar nicht mehr."
Tatsächlich war es Ram Kapur nach einem äußerst schwierigen Jahr gelungen, sein Unternehmen wieder auf Erfolgskurs zu bringen. Zwei Bauingenieurinnen, deren Vorgesetzter Shukla früher gewesen war (Preeti Das und Tuli Khanna), übernahmen dessen Aufgabengebiet. Sie hatten zwar längst nicht so viel Erfahrung wie Shukla, doch nach intensivem Training und Coaching konnten die beiden Frauen die entstandene Lücke füllen.
Seit einiger Zeit dachte Kapur nun doch wieder über eine Expansion nach - vielleicht in den Nahen Osten, wo es nicht so schwierig war, Investoren vom Sinn nachhaltigen Bauens zu überzeugen. Aber er war sich nicht sicher, ob sein junges Team es schaffen würde, zu Hause die Stellung zu halten, wenn er das Tagesgeschäft nicht mehr überwachte. Wenn Shukla wieder zurückkäme, ließen sich seine Expansionsträume womöglich doch noch verwirklichen. "Hari ist vielleicht der Einzige, der mir dabei helfen kann, mit meinem Unternehmen die nächste Sprosse auf der Erfolgsleiter zu erklimmen", erklärte er seinem Bruder.
"In unserer Stadt gibt es jede Menge begabter, kompetenter Arbeitskräfte", entgegnete dieser. "Dein Deserteur kann doch wohl nicht die einzige Option sein."
Weiter zu Teil 2. "Das beste fürs Geschäft" http://www.harvardbusinessmanager.de/heft/artikel/a-1139044-2.html
Die erste Frage ist doch, richtet man das Personal nach der Firmenstrategie aus oder umgekehrt? - Hat man sich für Möglichkeit eins entschieden und hat Ram seine hochfliegenden Pläne noch nicht begraben, muss die nächste Frage doch lauten, was sind die personellen Alternativen? - Gibt es überhaupt andere Bewerber, die ernshaft in Frage kommen? Und wenn ja, besteht nicht auch das Risiko, dass sie schnell wieder zum nächsten Arbeitgeber wechseln? Trotz eines sorgfältigen Auswahlprozesses kann die tägliche Zusammenarbeit mit einem anderen Kandidaten schwierig warden. Soll man den geeignetsten Kandidaten ablehnen, um sein Mütchen zu kühlen und sich damit selbst bestrafen? - Ich finde nein!