RICHARD BREM

WIEN ALS LEBENSPRINZIP
UND ERFOLGSGEHEIMNIS

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ABOUT THE AUTHOR

Richard Brem
Senior Advisor,
Peter Drucker Society Europe

 

Der 1909 in Wien geborene Management-Theoretiker Peter F. Drucker ist durch eine besondere Schule gegangen: In seiner Kindheit und Jugend verwandelte sich das Wohnzimmer seines Elternhauses mehrmals die Woche in einen Salon, in dem sich die damaligen Geistesgrößen der Wiener Gesellschaft trafen: Wissenschafter, Künstler und Ärzte waren ebenso regelmäßig zu Gast wie die Nationalökonomen Hayek, Mises und Schumpeter, mit denen Druckers Vater in seiner Funktion als Direktor des k.u.k. Handelsmuseums und nach 1918 als Sektionschef im Handelsministerium auch beruflich zu tun hatte. Der heranwachsende Peter Drucker durfte schon in jungen Jahren bei diesen Zusammenkünften dabei sein und den Gesprächen zuhören. „Das war eigentlich meine Erziehung.“


von links nach rechts: Friedrich A. Hayek, Joseph Schumpeter, Ludwig von Mises
 

 

Schwarzwald-Schule
 

Nachhaltig geprägt hat den jungen Peter Drucker auch sein Jahr in der Schwarzwald-Schule, die er als Neunjähriger besuchte. Die Schwarzwald-Schule im ersten Wiener Gemeindebezirk war ein zu ihrer Zeit revolutionäres Schulexperiment: Nach den Ideen der Sozialreformerin Eugenia Schwarzwald wurden damals Mädchen und Buben erstmals nicht mehr in strikt nach Geschlechtern getrennten Klassen, sondern gemeinsam unterrichtet. Und die Schülerinnen und Schüler lernten nicht nur Lesen, Schreiben, Rechnen und abstraktes Wissen, sondern auch praktische handwerkliche Fähigkeiten.

Auch bei der Vermittlung des Lernstoffs ging man in der Schwarzwald-Schule neue Wege: Drucker erinnert sich noch gut an zwei seiner Lehrerinnen – die Schwestern Sophie und Elsa Reis. In seiner Autobiografie „Adventures of a Bystander“ (dt.: „Schlüsseljahre. Stationen meines Lebens“, Campus 2003)  eschreibt Drucker deren Lehrmethode: Sie legten den Schwerpunkt nicht darauf, die Schwächen der Schüler auszumerzen, sondern ihre individuellen Stärken auszubauen. Einmal in der Woche setzte sich etwa „Fräulein Elsa“, wie sie von den Schülern genannt wurde, mit jedem einzelnen Schüler, mit jeder einzelnen Schülerin zusammen und besprach mit ihm oder ihr die Leistungen der zurückliegenden Woche und legte dann gemeinsam mit der Schülerin bzw.dem Schüler Lernziele für die kommende Woche fest. Zwischen diesen Sitzungen arbeiteten die Schüler zumeist eigenständig und auch eigenverantwortlich. Auf diese Weise, schreibt Drucker in seiner Autobiografie, wurde ihm „Arbeitsdisziplin und das Wissen vermittelt, wie man Leistungen durch Organisation erreicht“. Allerdings, fügt Drucker mit einem Augenzwinkern hinzu, habe er „diese Fertigkeit jahrelang missbraucht“. Sie ermöglichte ihm nämlich, „auf dem Gymnasium acht oder neun Monate lang absolut nichts zu tun und stattdessen meinen eigenen Interessen nachzugehen. Wenn dann meine Lehrer davon überzeugt waren, dass ich zumindest das Jahr zu wiederholen hätte, wenn nicht sogar ganz hinausgeworfen werden müsste, kramte ich Fräulein Elsas Arbeitshefte aus, steckte mir Ziele und organisierte meine Arbeit, bis ich mich schließlich am Ende des Jahres im oberen Drittel oder Viertel der Klasse befand, einfach weil ich einige Wochen lang innvoll und gezielt gearbeitet hatte.“ Mit Hilfe von Fräulein Elsas Methode absolvierte Drucker später auch sein Studium – obwohl er „praktisch die ganze Zeit lang keinerlei Vorlesungen besucht“ hatte. Ein Echo von Fräulein Elsas Arbeits- und Organisationsmethode findet sich auch in dem von Drucker Mitte der 50er Jahre entwickelten „Management by Objectives“ (MBO), einer Managementmethode, die auf einem gemeinsamen Festlegen von Zielen und selbstverantwortlichem Handeln basiert.


von links nach rechts: Schwarzwald-Schule Wien, Gymnasium in Wien Döbling, Adventures of a Bystander by Peter F. Drucker

 

Noch etwas lernte der junge Peter Drucker bei Fräulein Elsa und Fräulein Sophie: die Lust am Lernen und am Vermitteln von Wissen. Den Lehrern am Döblinger Gymnasium, das Drucker im Anschluss an die Schwarzwald-Schule besuchte, fehlten diese Qualitäten völlig. An einen dieser Lehrer erinnert sich Drucker besonders: „Das war der Herr Gröbel, der Geographie und Geschichte unterrichtet hat. Der hat sich geweigert, das neue Österreich zu unterrichten. Wir haben also alle Nebenflüsse der Donau in Ungarn gelernt und alle Nebenflüsse der Elbe in Böhmen.“ Diese Art der Rückwärtsgewandtheit und Realitätsverweigerung war kein Einzelfall, Drucker begegnete ihr allerorten in der jungen österreichischen Republik nach 1918. „Es war eine sehr homogene Vorkriegsgesellschaft, die der Wirklichkeit der 20er Jahre nicht gewachsen war und die sich auch gar nicht anpassen konnte an ein kleines Österreich. Das war auch einer der Gründe, warum das Österreich dieser Jahre in so schauerlicher Verfassung war, weil es sich wirtschaftlich gar nicht als Staat organisiert hatte, sondern immer noch versuchte, die alte Monarchie wirtschaftlich zusammenzuhalten. Das war auch einer der Hauptgründe, warum die ‚Kreditanstalt’ zusammengebrochen ist, weil sie alle diese Unternehmen in der Tschechoslowakei und Ungarn finanziert hat (Anm.: Der Zusammenbruch der damals größten österreichischen Bank löste 1931 eine weltweite Wirtschaftskrise aus.). Die Generation meiner Eltern hat eigentlich bis zum Ende in der Monarchie gelebt.“ 

Lehrling und Student in der  Zwischenkriegszeit


Das Österreich der Zwischenkriegszeit bot Peter Drucker keine Perspektive und so verließ er unmittelbar nach der Matura im Jahr 1927 Österreich in Richtung Deutschland. Nach einem Jahr als Lehrling in einem Hamburger Handelshaus ging er nach Frankfurt, wo er begann, Jus zu studieren und als Journalist bei der Tageszeitung „Frankfurter General-Anzeiger“ zu arbeiten. Drucker blieb bis zu Hitlers Machtübernahme im Frühjahr 1933 in Deutschland und übersiedelte dann nach London, wo er als Ökonom für eine Privatbank arbeitete. Die Bank wurde vom Wiener Brüderpaar Hans und Francis Hock geleitet, auf deren Vermittlung er damals auch an den legendären Seminaren des Wirtschaftswissenschafters John Maynard Keynes teilnehmen konnte. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ließ sich Drucker schließlich in den USA nieder, wo er wieder als Journalist arbeitete und auch zu unterrichten begann – zunächst an einem kleinen College in Vermont, später an der New York University. 


John Maynard Keynes

 

 

Grundstein für die Management-Theorie
 

Zum Unterrichten und zum Schreiben von Artikeln und Büchern – Tätigkeiten, die Drucker bis heute ausübt – ist seit Anfang der 40er Jahre noch ein dritter Tätigkeitsbereich hinzugekommen: die Unternehmensberatung. Drucker war 1942 von General Motors eingeladen worden, eine genaue Analyse des Unternehmens vorzunehmen. Drucker sprach eineinhalb Jahre lang mit Mitarbeitern auf allen Ebenen des damals weltgrößten Unternehmens, er war bei zahllosen Sitzungen und Besprechungen dabei, analysierte, wie Entscheidungen gefällt und im Produktionsprozess praktisch umgesetzt wurden, und legte 1945 dann seinen Bericht in Buchform vor: „The Concept of the Corporation“. Damit legte er zugleich den Grundstein für jede Form von Management-Theorie. Seit damals hat Peter Drucker unzählige Unternehmen beraten – darunter viele Weltfirmen wie IBM, General Electric, die Bank of America oder die Deutsche Bank – und er hat in seinen Artikeln, Aufsätzen und Büchern die wichtigsten Trends und Entwicklungen frühzeitig erkannt: von der Dezentralisierung, der Privatisierung und der „Pensionsfonds- Revolution“ bis hin zur „Wissensgesellschaft“. Wissen, so Druckers Analyse, wird in Hinkunft die Grundlage von Wirtschaft und Gesellschaft bilden und nicht mehr Kapital und handwerkliche Fähigkeiten. Drucker prägte in diesem Zusammenhang auch den Begriff des „Wissensarbeiters“, der den Fabrikarbeiter als Leitgestalt der Gesellschaft ablösen wird. Dabei werden sich unsere Begriffe von Schule und Lernen radikal verändern: An die Stelle einer abgeschlossenen Ausbildung in jungen Jahren wird in der Wissensgesellschaft ein ständiges Dazulernen neuer Fähigkeiten, das so genannte „lebenslange Lernen“ treten.

Lebenslanges Lernen
 

Drucker ist selbst das beste Beispiel für dieses „lebenslange Lernen“. Immer noch liest er viel und erarbeitet sich neue Wissensgebiete. Und er unterrichtet immer noch an der nach ihm benannten „Peter F. Drucker Graduate School of Management“ in Claremont, einem kleinen Universitätsstädtchen eine knappe Autostunde östlich von Los Angeles, an der er seit 1971 Management lehrt. Drucker nutzt den persönlichen Kontakt zu immer neuen Studenten, um auch selbst zu lernen – viele der älteren Studenten haben bereits Berufserfahrung und können ihren Mitstudenten, aber auch Drucker neue Einblicke in die sich ständig ändernde Praxis der Firmenführung geben. Einblicke in die Probleme, Herausforderungen und Chancen im Wirtschaftsleben der Gegenwart gewinnt Drucker auch bei seinen Gesprächen mit den Unternehmen, die er berät. Wobei Drucker seit vielen Jahren nicht nur Unternehmen berät, sondern unentgeltlich auch Non-Profit- Organisationen. Dazu zählen Kirchen ebenso wie Hilfsorganisationen; CARE zum Beispiel, eine Hilfsorganisation, die Drucker durch seine Ratschläge aus einer existenzgefährdenden Krise rettete. Ob multinationales Großunternehmen, Non-Profit-Organisation oder Kirche – Drucker sieht da kaum strukturelle Unterschiede. In allen Fällen geht es um die sinnvolle Organisation und den möglichst effizienten Einsatz von Ressourcen, Geldern und Manpower. Drucker mit seinem immensen Wissen über Organisation und Management und seiner jahrzehntelangen Erfahrung als Unternehmensberater kann dabei wertvolle Tipps und Hilfe geben.

E-Teaching
 

Da er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verreist, führt er manche dieser Beratungsgespräche per Video- Schaltung – ein Beleg, wie sehr Drucker mit der Zeit geht. Dass er keine Scheu vor neuen Technologien hat, bedeutet allerdings nicht, dass er ihnen nicht auch mit einer gesunden Skepsis begegnet. So rechnete er etwa den Redakteuren der amerikanischen Zeitschrift „Wired“ vor, dass zwar einzelne Computerfirmen wie Microsoft Gewinne machen, die Computerindustrie insgesamt aber Verluste schreiben wird. Auch den Hype rund um die New Economy Ende der 90er Jahre hat er nie mitgemacht. Befragt vom New-Economy-Magazin „Business 2.0“, was er vom Internet halte, antwortete Drucker, dass dessen Haupteffekt nicht wirtschaftlicher, sondern psychologischer Natur sei, weil das Internet nämlich Entfernungen eliminiere. Eine Entwicklung, die, wie Drucker weiter ausführte, bereits im frühen 19. Jahrhundert mit der Eisenbahn begonnen habe. Diese Fähigkeit, neue Entwicklungen in großen Zusammenhängen zu sehen und wirtschaftliche Fragen nie isoliert, sondern immer vor dem Hintergrund von Gesellschaft und Technik zu sehen, ist es, die Manager, Unternehmer und Firmengründer an Drucker so schätzen.

Der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan, auf den der berühmte Begriff „Global Village“ und die Erkenntnis „The Medium is the Message“ zurückgehen, hat in einem Essay über Peter Drucker darauf aufmerksam gemacht, dass es im elektronischen Zeitalter nicht darauf ankommen wird, Wissen anzuhäufen, sondern es sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Eine „bloße Hinzufügung von Wissen“, schreibt McLuhan, „kann niemals den lebendigen Kern eines Lebensprinzips ersetzen“. Als Beispiel für solch ein Lebensprinzip nennt McLuhan das alte Wien. Die Stadt, in der Drucker aufgewachsen ist, hätte „über Jahrhunderte hinweg einen kulturellen und ökonomischen Knotenpunkt“, eine Art „Interface“ dargestellt. Hier, in seiner Heimatstadt, hätte der junge Drucker seine „in Zusammenhang bringende Art und Weise des Lernens“ und die Verknüpfung von einzelnen Disziplinen und Wissengebieten gelernt. Und hier liegt für McLuhan auch der Schlüssel zum Verständnis von Druckers Denken und von Druckers Erfolg als Unternehmensberater. Für McLuhan ist Drucker allerdings nicht einer der letzten Repräsentanten einer längst vergangenen Epoche, sondern zugleich auch ein Pionier und ein Vorbild für die Zukunft. Denn: Ein „enzyklopädischer und internationaler kultureller Hintergrund“, wie ihn Drucker aufweist, wird in Zukunft unverzichtbar sein, „wenn man es mit dem Leben im elektronischen Zeitalter zu tun hat“.

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